Kann ein Kartenspiel ein sensibles Objekt sein?

 

Sensible Objekte sind spätestens seit den Diskussionen um das Humboldt-Forum auch außerhalb der Wissenschaft vielen hier ein Begriff. Sie sind Thema von reißerischen Büchern und auf Kultusministerkonferenzen. Die Rückgabe menschlicher Überreste an indigene Delegationen ist Thema in den Nachrichten. Einige Museen haben unrechtmäßig erworbene Gegenstände aus ihrem Besitz an die Herkunftsländer zurückgegeben.

Unter sensiblen Objekten werden in erster Linie menschliche Überreste verstanden oder Gegenstände, die menschliche Überreste enthalten. Weiter sind es Objekte, die aus religiösen oder rituellen Gründen der Herkunftsgesellschaften nicht öffentlich gezeigt/ gesehen werden sollen, bei denen die Erwerbsumstände, die Herkunft, die Herstellung oder Aneignung (inklusive der Musealisierung) aus heutiger Sicht heraus fragwürdig sind, mit Unterdrückung und Entwürdigung von Minderheiten einhergehen oder deren rassistischer Inhalt die Rechte Dritter verletzt (Brandstetter, Hierholzer 2017: 12, 13). Sie stammen vielfach aus Unrechts- oder Gewaltkontexten unterschiedlichster Art.

Menschliche Überreste und heilige/geheime Objekte lassen sich von Fachleuten zumeist auf den ersten Blick erkennen. Beim Punkt der Erwerbsumstände wird es komplizierter. Um auf das oben genannte Beispiel der Tasse zurückzukommen: Man sieht es der Tasse von außen nicht an, ob, und wenn ja, wann, wem und von wem sie gestohlen wurde. Dazu sind andere Informationen sowie tiefer gehende Recherchen zu den Biographien der Sammler nötig. Manchmal liefern Angaben aus Inventarbüchern wichtige Hinweise, wenn zum Beispiel der Beruf des Schenkers verzeichnet wurde. Angehörige des Militärs sind quasi automatisch verdächtig, Objekte in unsymmetrischen Verhältnissen erworben zu haben, wenn die Objekte zusätzlich aus dem Zeitalter der europäischen Expansion und aus Kolonialgebieten stammen. Missionare dagegen sind immer unsymmetrischer Machtverhältnisse verdächtig, auch wenn sie nach dem Ende der Kolonialzeit in anderen Weltgegenden tätig waren. Manchmal gibt es andere schriftliche Unterlagen wie Tagebücher, Notizzettel. Ergebnisse von bereits erfolgten Provenienzrecherchen zu kolonialzeitlichen Sammlern zeigen, dass diese sehr vielfältig gesammelt haben. Sie haben Objekte an Ort und Stelle getauscht, geschenkt bekommen oder sie im Rahmen von militärischen Strafexpeditionen in ihren Besitz genommen. In den meisten Fällen haben der Sammler - oder seine Nachkommen - nicht übermittelt, welche Erwerbsart zu welchem Objekt gehört (vgl. von Poser, Baumann (Hrsg.) (2016): z.B. 40, 56, 69, 172, 196, 197, 212, 213).

Der Anteil der zu prüfenden Objekte, die in diesem Projekt unter dem Verdacht stehen, aus kulturellen Gründen oder aufgrund der Erwerbsumstände sensibel zu sein, liegt bei etwa 3%. Das Spektrum reicht von australischen, ausschließlich Männern vorbehaltenen Ritualgegenständen über im Jahr 1909 erworbenen Herero-Objekten bis zu übermodellierten Schädeln aus Neuguinea. Objekte von einem Grab finden sich ebenso wie Spielkarten aus einem „Lager“ einer gegnerischen Kriegspartei. In all diesen Fällen wäre eine tiefer gehende Provenienzrecherche mehr als angebracht!

 

Das eben erwähnte Kartenspiel ist ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig weitere Informationen sind. Es ist eines von mehreren chinesischen Kartenspielen in den Sammlungen. Spiele dieser Art werden auch heute noch gerne und oft in China gespielt. Das Spiel ist unvollständig, 15 schmale Karten sind erhalten. Spiele dieser Art waren käuflich zu erstehen. In diesem Fall hat sich ein beschrifteter Briefumschlag erhalten, auf dem in damaliger Schrift zu lesen ist: „Chinesische Spielkarten aus dem Lager von Tientsin, Juni 1900“. Dies ändert die Sachlage schlagartig. Tianjin (ehemals Tientsin) war um 1900 Chinas zweitgrößte Handelsstadt, im sogenannten „Boxeraufstand“ Zentrum des Widerstandes gegen die Europäer und Schauplatz erbitterter Kämpfe gegen sie. Auch deutsche Marinesoldaten nahmen an den Kämpfen teil. Der Einsatz des 1902 verstorbenen Sammlers bei diesen Kämpfen ist belegt. Wir haben hier also ein sensibles Objekt vor uns. In einem zweiten Schritt wurden von uns daher alle weiteren Objekte dieses Sammlers unter den Verdacht gestellt, ebenfalls sensible Objekte zu sein. In einem dritten Schritt müsste nun - nach Möglichkeit in Zusammenarbeit mit indigenen Partnern - Objekt für Objekt recherchiert werden, ob sich dies bewahrheitet oder nicht. Dies bleibt bei diesen und den anderen potenziell sensiblen Objekten einem Nachfolgeprojekt vorbehalten.

 

Fotos: Arbeitsfotos Kalka

 

Literatur:

 

Brandtstetter, Anna-Maria und Vera Hierholzer (Hg.)

 

2017    Sensible Dinge. Eine Einführung in Debatten und Herausforderungen. Open Access, Abgerufen unter: Sensible Dinge. Eine Einführung in Debatten und Herausforderungen (vr-elibrary.de)

 

Vogel, Christian

2018    Handle with care. Sensible Objekte in den universitären Sammlungen Göttingens. Bog. Forum Wissen. Abgerufen unter: Handle with care! Sensible Objekte in den universitären Sammlungen Göttingens – Forum Wissen Blog (forum-wissen.de) (7.4.2022).

 

Von Poser, Alexis und Bianca Baumann (Hg.)

2016    Heikles Erbe. Koloniale Spuren bis in die Gegenwart. Dresden.

 

Onlinequellen:

 

Der "Boxer"-Aufstand (dhm.de)

Ostasiatisches Expeditionskorps und Ostasiatische Besatzungsbrigade (Bestand) - Archivportal-D

Boxeraufstand 1900 - 1901 nach historischen Dokumenten und Quellen | ©2006~2009 miru. All rights reserved

Uni Göttingen gibt Gebeine aus Sammlung an Hawaii zurück | NDR.de - Nachrichten - Niedersachsen - Studio Braunschweig

Geschichte: Delegation aus Hawaii bringt Schädel zurück in die Heimat | ZEIT ONLINE

Aufarbeitung der Kolonialzeit: Tausende menschliche Gebeine aus Kolonien | tagesschau.de

Geschichte: Mehrere Museen geben menschliche Überreste an Hawaii zurück | ZEIT ONLINE

 

 

Leadpartner

Museumsverbund Nordfriesland

 

Herzog-Adolf-Str. 25

25813 Husum

Email: info@museumsverbund-nordfriesland.de

Telefon: +49 4841 2545


Projektleitung: Tanja Brümmer M.A.

Email: bruemmer@museumsverbund-nordfriesland.de

Telefon: +49 4841 2545